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Festvortrag

Joachim Kix, Dipl.Psych.

Impulse zu den Zukunftsforen „Quo vadis Melchiorsgrund“

Vortrag downloaden

Liebe „Festgemeinschaft“!

„Quo vadis Melchiorsgrund?“ – „Wo geht es hin?“ oder auch – „Wo kann es hingehen?“ Ich wurde gebeten, als Psychologe, der hier im Melchiorsgrund seit letztem Jahr partiell mitwirkt, einige kurze fachlich-psychologische Impulse zum 44. Geburtstag dieses wunderbaren Ortes einzubringen. Es ist für mich eine große Ehre, heute hier stehen und Inhalte mit Ihnen und euch teilen zu dürfen, die mir sehr am Herzen liegen!

Hier, an diesem Ort, leben und arbeiten seit nunmehr 44 Jahren Menschen, die einen seelischen bzw. psychischen Unterstützungsbedarf bzw. Assistenzbedarf haben. In der sozialrechtlichen Terminologie spricht man von „Menschen mit Doppeldiagnosen – Abhängigkeitserkrankungen und seelische Behinderungen“. Es geht im Melchiorsgrund um Leute, die aufgrund ihrer seelischen Not in eine Suchterkrankung geraten sind oder auch umgekehrt, aufgrund Ihrer Suchterkrankung in eine seelische Not gekommen sind. Für den heutigen ersten Teil unseres Zukunftsforums, habe ich die folgenden drei Themen vorbereitet:

# Sucht
# Trauma
# Kulturherapeutisches Dorf Melchiorsgrund

Uns ist wichtig, dass nach jedem der Impulse die Möglichkeit zu Rückfragen und zum Erfahrungsaustausch besteht. Heute geht es um psychologische Grundlagen und die Möglichkeiten, die im bestehenden_ „setting Melchiorsgrund“_ bereits genutzt und gelebt werden und wie dieses wunderbare setting_ „Kulturtherapeutisches Dorf“_ in seinen (päd-)agogischen Möglichkeiten erweitert werden könnte. Schon der Name „Melchiorsgrund“ legt ja nahe, dass man hier den Dingen auf den Grund gehen will und kann. Ich hoffe sehr, dass die Impulse eines Psychologen das Gespräch über die wichtige Arbeit an diesem Ort bereichern und auch Sie selbst davon profitieren können, und freue mich auf unsere „Austausch-Runden“!

1. Sucht

Sucht kann man aus psychotherapeutischer Sicht als „ambivalentes Ambivalenzthema“ bezeichnen. Normalerweise suchen wir eine Therapie auf, weil es Symptome gibt, die wir loswerden wollen: Ängste, depressive Symptomatiken, belastende Erfahrungen etc. Wir gehen zu einer Therapeutin oder einem Therapeuten, weil die meisten Anteile in uns sagen:
„Ich will das nicht mehr – das soll weg!“

„Es soll mir wieder gut gehen, ich möchte meine Ängste überwinden, meine Depression hinter mir lassen, ich möchte die schrecklichen Erinnerungen verlieren …“

Beim Thema Sucht ist das anders: Wenn jemand konsumiert, dann hat er gute Gründe dafür. In dem Moment, wo er oder sie konsumiert, macht er oder sie eine gute Erfahrung, sonst würde er oder sie ja nicht konsumieren.

Suchtverhalten bzw. ein Konsum von Suchtmitteln hat wie jedes andere Verhalten einen „guten Grund“.

Sucht ist ein Lösungsversuch, zum Beispiel um

  • Entspannung zu finden
  • schlimme Erlebnissen zu vergessen
  • die eigene Selbstwertproblematik zu transformieren
  • aus Schuldgefühlen oder einer Depression herauszukommen
  • und andere Gründe …

Wenn man Drogenabhängige fragt: „Warum konsumierst du eigentlich?“, dann hört man meist die gleichen Dinge, die bei Psychotherapeuten sowieso „im Regal stehen“:

  • Abwertungsgefühle loswerden
  • sich wohlfühlen
  • Sicherheit empfinden
  • …

Ein Dealer „verkauft“ also das Gleiche wie ein Psychotherapeut, nur mit anderen Mitteln!

Der Konsum eines Suchtstoffes bzw. das Praktizieren oder Weiterführen von süchtigem Verhalten stellt für die Betroffenen meist eine Selbstbehandlung gegen etwas Belastendes, Ungeklärtes oder Leidverursachendes dar. Sucht ist fast immer der Versuch, etwas Schlimmeres zu verhindern, zum Beispiel unangenehme, selbstwertvermindernde Gefühle und Erinnerungen, das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit, innere Schmerzen oder Ängste. Durch das Suchtmittel kann man dem vorübergehend entkommen oder fühlt sich zumindest nicht länger ohnmächtig ausgeliefert. Es sollte also nachvollziehbar sein, dass Leute konsumieren.

Deshalb ist es ganz wichtig, ja für den Beziehungsaufbau in der therapeutischen Begleitung zentral, anzuerkennen, dass der Konsum für die oder den Betroffenen einen Lösungsversuch dargestellt hat. Ich sage es noch einmal: Suchtverhalten ist meist der Versuch, etwas Schlimmes, als unaushaltbar Empfundenes zu ertragen, indem man es zumindest vorübergehend nicht spüren muss. Daher sollte der Konsum als zumindest vorübergehend wirksamer Lösungs-bzw. Selbsthilfeversuch ernst genommen und gewürdigt werden.

Leider haben Drogen und Suchtmittel hohe Begleitkosten, die existenzgefährdend sein können. Die Folgen des Konsums sind es, die Menschen dazu bringen, dass ein Anteil in ihnen sagt: „Ich möchte nicht mehr konsumieren, ich will aufhören, es macht mich kaputt.“ Es gibt aber auch einen anderen Teil, eine andere innere Stimme, die sagt: „Konsumiere weiter, das war doch immer gut!“ Wir haben es also mit einer starken Ambivalenz zu tun und beide Anteile haben Recht.

Deshalb ist das Thema Sucht viel komplexer als viele andere Themen und erfordert dementsprechend ein komplexeres Arbeiten. Dazu kommt noch, dass Sucht bzw. Konsum von Drogen, aber auch substanzunabhängiges Suchtverhalten wie Glücksspiel, Computerspiele, Kaufen, Handyabhängigkeit „verschwippschwägert“ sind mit dem Dopaminsystem in unserem Gehirn, unserem Belohnungssystem.

Das Symptom, das, was eigentlich aufhören soll, hängt sozusagen an der Nadel des Dopaminsystems. Damit geht es physiologisch und psychologisch um Freude und Lust. Das macht es so schwierig, weil Betroffene etwas loslassen wollen oder sollen, was sich gut angefühlt hat, was für sie eine vorübergehende Hilfe oder Lösung war.

Dazu kommt der Faktor Gewöhnung bzw. Gewohnheitsmuster. Wir alle wissen, wie schwer es ist, aus solchen Mustern herauszufinden …

Patienten mit Suchtthemen fühlen sich nur dann angenommen und aufgenommen, wenn man sie nicht wie Aussätzige behandelt, sondern wenn man anerkennt, dass das Konsumieren eine Funktion hat/hatte. Wir sollten Interesse dafür zeigen: „Was haben Sie denn versucht, damit zu erreichen?“

Um die Bereitschaft zu wecken oder zu steigern, in einer Therapie daran mitzuarbeiten, seinen Konsum zu überwinden, braucht es eine „Gewinnerwartung“. Die positive Absicht, die mit dem Konsum verfolgt wurde, müsste für die Klientin bzw. den Klienten mit etwas anderem erfüllt werden können.

  • Wenn der Konsum Entspannung bedeutet, dann sollte ich, wenn ich nicht mehr konsumiere, irgendwelche anderen Entspannungskompetenzen haben.
  • Wenn der Konsum eine Selbstwertstabilisierung bedeutet, dann sollte ich irgendwie anders für mein Selbstwertgefühl sorgen können, wenn ich nicht mehr konsumiere.

Das wäre ein „Deal“. Für die Zahlungsbereitschaft, das heißt das Einlassen und aktive Mitarbeiten in der Suchttherapie, sollte jemand die Aussicht auf diesen Mehrwert haben, um ganz mit im Boot sein zu können.

Noch dazu ist Abstinenz kein attraktives Ziel. Nicht-Raucher zu werden, also quasi seine Identität als Raucher aufzugeben und eine Nicht-Identität anzustreben, ist nicht wirklich motivierend. Nicht-Konsument zu sein – was soll das darstellen? Abstinenz ist kein Selbstzweck!

Wann lernen wir am besten? Immer dann, wenn wir das Belohnungssystem am Start haben! Es gibt Bestrebungen, die Suchtbehandlung attraktiver zu machen. In diesem Zusammenhang ist von einer „Gamifizierung der Suchttherapie“ die Rede. Der Begriff „Gamifizierung“ kommt aus der Abhängigkeitsmachung von Computerspielen. Computerspiele sind so gebaut, dass sie so viel Spaß machen, dass man gar nicht anders kann als weiterspielen. Die Idee wäre, Suchttherapie so zu strukturieren, dass sie so viel Freude macht, dass die Leute immer weiter machen wollen.

Bisher kommt Psychotherapie und vor allem die Suchttherapie konventionell jedoch immer sehr ernst und bedeutsam daher. Wenn man auf einer Party ist und redet und hat Spaß und dann sagt einer: „ich mache gerade eine Psychotherapie“, wird es ganz bedeutsam und ernst. Es ist aber nicht zieldienlich, wenn wir so über Therapie reden, vor allem im Hinblick auf unser Gehirn. Es lernt immer dann, wenn die Aussicht auf Belohnung besteht und wir etwas mit Freude machen. Das hieße Suchttherapie nach dem Motto:

„Ich habe zwar eine Suchtproblematik, aber ich mache eine Therapie und das ist super! Ich finde es klasse, dass wir dort wichtige Punkte meines Lebens aufarbeiten und auch wenn da Belastendes zur Sprache kommt, weiß ich, dass das gut ist und mir gut tut!“

Daher ist es von großer Bedeutung für die therapeutische Zusammenarbeit, einen gemeinsamen Auftrag zu finden bzw. zu formulieren:

  • Was wollen wir, Klientin bzw. Klient und Therapeutin bzw. Therapeut gemeinsam erreichen?
  • Wozu bin ich hier?
  • Wie empfinde ich meine intrinsische Situation, das heißt, wie erlebe ich sie selbst – und nicht andere, die meinen, ich sollte eine Therapie machen?
Und daraus folgend:
  • Was ist dann meine intrinsische, also ureigene, aus mir selbst kommende Motivation?

Es geht um mehr als „gute Vorsätze“, die wir ja meist sowieso nicht einhalten können, oder darum, andere durch eine Mitarbeit in einer Therapie zufrieden stellen zu wollen.

Ich fasse noch einmal zusammen:

Zentral für den Aufbau einer therapeutischen Beziehung bzw. für das Gelingen der Zusammenarbeit zwischen Klientin bzw. Klient und Therapeutin bzw. Therapeut ist die Anerkennung, das Würdigen des Suchtmittel-Konsums als Überlebensstrategie. Es war bisher ein Ausweg gegenüber Schlimmerem, ein Selbstrettungs- bzw. Selbstheilungsversuch.

„Den Konsum wertschätzen“, das mag ungewöhnlich erscheinen. Selbst viele Suchttherapeuten reagieren überrascht angesichts einer solchen Aufforderung. Früher war es in der Suchtmedizin nicht denkbar, dass wir ganz offen auf den positiven Aspekt des Konsums fokussieren und das Suchtverhalten wertschätzen und damit wertschätzen, dass der Körper auch gute Erfahrungen mit der Substanz gemacht hat, durch die schnelle Einflutung von Dopaminen.

„Den Konsum wertschätzen (validieren)“ : Könnte das nicht nur eine wichtige Grundhaltung von Therapeuten, sondern disziplinübergreifend die gemeinsame Haltung der gesamten Mitarbeiterschaft an einem suchttherapeutischen Ort werden?

Die gemeinsame Haltung von Pädagogen, Alltagsbegleitern, Ärzten und medizinischem Personal, Arbeitsanleitern und allen anderen, die hier am Melchiorsgrund mitwirken? Ich halte das für notwendig, damit überhaupt eine authentische, in die Tiefe wirkende Zusammenarbeit zwischen Personal und Klientel wachsen kann!

Noch einmal: Hinter dem Konsum von Suchtmitteln steht eine innere Not, etwas, das man nicht oder nicht mehr aushalten, nicht mehr ertragen konnte. Damit sind wir bei der Frage angelangt, was dieses „Schlimmere“ ist, gegen das sich Leute mithilfe von Suchtmitteln oder Suchtverhalten schützen bzw. retten wollen.

Diese Frage führt uns zum zweiten Punkt: „Trauma“.

Bevor ich Sie und euch in diese Thematik mit hineinnehme, ist jetzt Raum für Rückfragen, eigene Gedanken und Erfahrungen dazu..

2. Trauma

Wir waren mit dem Ende des ersten Teils beim Begriff „Trauma“ angelangt, weil hinter dem Konsum von Suchtmitteln eine innere Not steht: Erfahrungen, die man nicht oder nicht mehr aushalten, nicht mehr ertragen konnte. Ich hatte Beispiele genannt: Ängste, Selbstabwertung, Demütigungs- und Vernachlässigungserfahrungen, Leere, Ekel, Schmerz, Trauer, Verlustgefühle, …

Mit dem Begriff „Trauma“ ist dieses „Schlimmere“ gemeint, gegen das sich Leute mithilfe von Suchtmitteln oder Suchtverhalten schützen bzw. retten wollen.

Bevor ich darauf näher eingehe, schicke ich eine Triggerwarnung voraus. Das Thema kann für einzelne von Ihnen bzw. Euch belastend sein – bitte tun Sie dann das, was Sie im Moment entlastet bzw. Ihnen Sicherheit gibt, zum Beispiel rausgehen, etwas essen, einen vertrauten/sicheren Ort aufsuchen, mit einer vertrauten Person sprechen und diese ggf. kurz mit hinausbitten …

Gleichzeitig gilt aber auch, dass eine Aufklärung über das Thema Trauma(-tisierung) eine der wichtigsten Maßnahmen zur Verhinderung von Traumafolgestörungen bzw. zur Stabilisierung von Menschen mit einer Traumatisierung ist.

Es ist also grundsätzlich hilfreich, wenn wir das Thema hier beleuchten. Wenn es jemandem innerlich zu viel wird, dann haben Sie die Freiheit, sich dem nicht länger auszusetzen!

Fast jede Biografie von Menschen mit einer Suchtproblematik enthält relevante Traumata. Daher kann man Suchtmittelkonsum bzw. Sucht als Traumafolgestörung bezeichnen. Inzwischen gibt es eine Menge empirischer Befunde, die dies belegen. Im Einzelfall bedarf es der „Traumasensibilität“, um einen Zusammenhang zwischen Sucht und traumatisierenden Erfahrungen in der Biografie anzunehmen. Das heißt nicht, dass Menschen unfreiwillig und unvorbereitet mit möglichen Traumata konfrontiert und diesbezüglich ausgefragt werden sollten! Im Gegenteil, ich warne sehr davor, denn man kann Menschen dadurch retraumatisieren, also in ihr Trauma-Erleben zurückkatapultieren! Hier ist große Vorsicht und Behutsamkeit angezeigt, denn es braucht dazu einen vorbereiteten Rahmen.

Zunächst sollten wir die Frage klären: Was ist überhaupt ein Trauma – bzw. was ist es nicht? Der Begriff „Trauma“ steht in der Gefahr, inflationär verwendet und damit entwertet zu werden. Wir alle kennen wahrscheinlich die gängige Definition: „Eine traumatische Situation ist eine Erfahrung, die unsere Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt.“

Was sind unsere gängigen Bewältigungsmuster?

In jeder bedrohlichen bzw. als gefährlich oder schädlich empfundenen Situation checken wir bewusst oder unbewusst ab, ob wir der Situation gewachsen sind und uns ihr stellen bzw. uns erfolgreich wehren können, oder ob das nicht der Fall ist und wir sie lieber vermeiden, ihr zu entkommen versuchen. „Fight or flight!“

Ein Trauma ist definiert als eine Situation, in der wir uns weder erfolgreich behaupten können („no fight“ – wir können uns nicht erfolgreich schützen und wehren) und der wir nicht entkommen bzw. der wir nicht entgehen können . Wir sind und fühlen uns folglich hilflos, ohnmächtig. Der Fachbegriff an dieser Stelle lautet: „Ausgeliefert-Sein“. Dieses Gefühl wird als maximal unangenehm, ja als unerträglich empfunden. Ein krasses Beispiel dafür sind Foltersituationen. Ich muss etwas erleben und aushalten, was ich auf keinen Fall möchte.

Das kann eine ganz große einmalige als lebensbedrohlich empfundene bzw. wahrgenommene Situation sein . Es kann sich aber auch um wiederholte, als ausweglos empfundene alltagsnähere Erfahrungen handeln, wie zum Beispiel permanente Abwertung, „Mobbing“, etc. („small t-trauma“)._ Die relevantesten traumatisierenden Faktoren sind Gewalt (in allen Formen: körperlich und psychisch [inkl. Vernachlässigung], verbal, sexualisiert, strukturell, …) und Verlust (gegenüber einer Verlusterfahrung kann man sich nicht wehren und vor ihr nirgendwohin fliehen.)

In einer traumatischen Situation werden wir mit äußerst unangenehmen Gefühlen überschwemmt, bei Mehrfach- oder Wiederholungstraumata geschieht dies immer wieder! Das können wir nur aushalten, indem wir innerlich „einfrieren“, das heißt wir nehmen uns und das Geschehen nicht mehr umfänglich wahr, sondern ertauben innerlich – und teilweise auch für äußere Reize wie zum Beispiel körperliche Schmerzen. Der Fachbegriff dafür lautet „freeze“, einfrieren.

Das kann bis zur Dissoziation gehen, das heißt einer kompletten Abspaltung des Erlebten bzw. Empfundenen, weil es zu schlimm ist, um es ins Bewusstsein dringen zu lassen. Betroffene spüren sich nicht mehr, können Gefühle nicht mehr oder nur eingeschränkt empfinden, stehen wie neben sich.

Ich weise darauf hin, dass all diese psychischen Phänomene mit nachweisbaren physiologischen Prozessen im Gehirn einhergehen, die in der Neurobiologie beschrieben und mit modernen Untersuchungsmethoden sogar zum Beispiel mittels MRT-Aufnahmen sichtbar gemacht werden können. Aus Zeitgründen ist es mir an dieser Stelle leider nicht möglich, näher darauf einzugehen.

„Freeze“, das Einfrieren, verhindert eine detaillierte kognitive Wahrnehmung der aktuellen Situation. „Freeze“ verhindert auch eine – in dieser Situation überfordernde – Auseinandersetzung mit der belastenden Situation. Somit ist dieses Einfrieren bzw. die Gefühlstaubheit zunächst ein effektiver Schutzmechanismus, mit Situationen, die als existenzbedrohend wahrgenommen werden, umzugehen. Es ist also „gesund“ bzw. nicht krankhaft, nicht pathologisch, in einer traumatischen Situation so zu reagieren. „Freeze“ ist daher zunächst eine „normale“, weil eine Schutzreaktion auf eine außergewöhnliche Belastungsreaktion.

„Freeze“ hat zwei Folgen:

1. eine Aufsplitterung der Wahrnehmung und der Erinnerung des traumatischen Geschehens, das heißt, wir können keine vollständige Geschichte erinnern, sondern nur Splitter bzw. Fragmente davon. Das Ganze im Bewusstsein zu haben, wäre völlig überfordernd, würde uns überschwemmen, wegspülen, wäre unerträglich. Das Aufsplittern in Fragmente raubt uns zwar das vollständige Bild, erspart uns aber einen mehr oder minder großen Teil des Schreckens.

2. Das zweite posttraumatische Muster ist das ungewollte Wiedererleben des Traumas in Form von sog. „flashbacks“, das heißt einem unkontrollierbaren „Aufploppen“ der damaligen Gefühle. Nachts kann dies in Form von Alpträumen geschehen, es kann einen aber auch tagsüber einholen und wieder vollkommen in Beschlag nehmen. Es geht nicht um ein Wiedererinnern von etwas Vergangenem, sondern um ein Wiedererleben derselben Gefühle, wie in der damaligen Situation, als würde es erneut und immer wieder neu geschehen.

Diese posttraumatische Belastungsreaktionen sind nicht Ausdruck einer psychischen Störung, sondern zunächst „normal“, weil sie angemessene Reaktionen auf außergewöhnliche Erfahrungen und Belastungen darstellen. Problematisch wird es, wenn sie auch nach vier bis sechs Wochen nicht zurückgehen. Dann besteht die Gefahr, dass aus einer akuten Traumatisierung eine Posttraumatische Belastungsstörung und damit eine gravierende psychische Störung entsteht und die Symptomatik chronisch wird, das heißt über Monate ggf. Jahre und Jahrzehnte nicht verschwindet, sondern immer wieder eintritt.

Die vier Hauptsymptombereiche einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS oder englisch: Post traumatical stress disorder – PTSD) sind:

  1. ungewolltes Wiedererleben (Flashbacks)
  2. Unterregung (Gefühlstaubheit, inneres Erstarren, Dissoziation) abwechselnd mit Phasen der
  3. Übererregung (zum Beispiel ständiges Abscannen der Umgebung um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen, Angespanntheit, Unruhe, Schlafprobleme)
  4. Vermeidung insbesondere von traumaähnlichen Reizen und Situationen, sowie Personen, um nicht „getriggert“ zu werden. Das Vermeidungsverhalten breitet sich oft immer weiter aus, weil es zunächst erfolgreich Flashbacks erspart.

Man spricht in diesem Zusammenhang von der „traumatischen Zange“. Ein Bild, mit dem ich das Gesagte nochmals wunderbar zusammenfassen kann:

Die beiden „Zangenarme“ heißen „no fight“ und „no flight“ und quetschen unsere Seele. Das führt zum_ „freeze“, zur Zerplitterung der Erinnerung und Wahrnehmung („fragments“) und zu „flashbacks“. Man spricht hier auch von den „5 F’s“. Diese Quetschung hinterlässt so langfristige, andauernde Spuren, dass Betroffene darunter Jahre bis Jahrzehnte leiden können. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt heißt Psychotrauma daher „Seelenquetschung“ bzw. „seelische Wunde“.

Lisa M. Najavits, die ein Therapieprogramm für traumatisierte Menschen, die in Substanzmittelmissbrauch hineingeraten sind, entwickelt hat, schreibt im Vorwort Ihres Buches dazu:

„Trauma ist eine extreme Form von Pech – das Pech in der falschen Familie, am falschen Ort oder zur falschen Zeit geboren zu sein. Das Leben ist von der Unsicherheit überschattet, dass ohne Grund und ohne Gerechtigkeit die Dinge extrem schief gehen können.“

(Lisa M. Najavits: aus dem Vorwort des Buches: Posttraumatische Belastungsstörung und Substanzmittelmissbrauch. Das Therapieprogramm „Sicherheit finden“; 2008)

Ich denke, es wird nachvollziehbar, dass man dem Sog von Flashbacks irgendwie entgehen will und auf alle möglichen Weisen versucht, dem Wieder-und Wiedererleben der traumatischen Gefühle zu entgehen. Ein Weg dazu, ist der Konsum von Suchtmitteln.

Sucht kann daher eine Traumafolgestörung sein!

Meine bisherigen Gespräche mit Bewohnerinnen und Bewohnern hier im Melchiorsgrund belegen mir dies immer wieder ganz persönlich und berührend.

Marc Schmid schreibt dazu: „Wenn man die Erfahrung gemacht hat, jederzeit plötzlich sterben zu können, verlieren langfristige Ziele und Bemühungen ihren Reiz bzw., ihre Bedeutung. Es kann sich aber auch eine ständige Suche nach Gefahr einstellen. Viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen verspüren im Alltag rasch Langeweile und suchen immer wieder den extremen Nervenkitzel und das Risiko, um sich zu spüren.“
(Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern: Ein Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik; Herausgegeben von: Gahleitner, Silke Birgitta; Hensel, Thomas; Baierl, Martin; Kühn, Martin; Schmid, Marc; Mitarbeit: Steinlin-Danielsson, Célia, 2016, S. 31-32).

Dazu gehören neben ungeschützten Sexualkontakten, riskantem Verhalten im Straßenverkehr, Extremsport auch der frühe Substanzkonsum.., Eine der Pionierinnen der Traumaforschung im deutschen Sprachraum, Dr. Luise Reddemann, schrieb bereits 2005:

„Die Lebensgeschichten von Menschen mit Suchterkrankungen sind häufig durch Traumatisierungen im Kindesalter wie sexuellen Missbrauch, körperliche und emotionale Misshandlung geprägt und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen sind auch in späteren Lebensabschnitten weitaus häufiger als die Allgemeinbevölkerung traumatischen Erfahrungen ausgesetzt (…)“

Und weiter: „Es steht mittlerweile außer Frage, dass Missbrauch bzw. Abhängigkeit von psychotropen Substanzen zu den wichtigsten Folgestörungen nach Traumatisierungen gehören.“
(Dr.med. Luise Reddemann, 2005: Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin 2005 Heft 3)

Es ist empirisch längst ausreichend belegt, dass hinter vielen sog. Suchtbiographien traumatische Erlebnisse stecken. Es gibt zum Beispiel Zahlen, dass bis zu 67% Frauen und bis zu 40% Männer mit Drogenproblemen, sexuelle Gewalterfahrungen erlitten haben – um nur ein mögliches Traumaszenario hier zu nennen. Weitere Zahlen kann ich auf Nachfrage gerne zur Verfügung stellen …

Frau Reddemann fordert daher: „Es ist an der Zeit, dass sowohl Psychotraumatologen lernen, auf Suchterkrankungen bei ihrer Klientel zu achten und Suchttherapeuten umgekehrt mehr nach Traumafolgestörungen bei ihren PatientInnen forschen und daraus angemessene Behandlungskonzepte ableiten.“
(Reddemann: a.a.O. 2005)

Eine „traumasensible Wahrnehmung“ von „Suchtbiographien“ ist daher zentral für eine erfolgreiche Hilfe und Begleitung von Menschen, die in Abhängigkeitserkrankungen geraten sind!

Die Welt von Menschen, die – besonders mehrfache oder andauernde – traumatische Erfahrungen machen mussten, bietet keine verlässliche Grundlage mehr. Traumata verstören nicht nur das grundlegende Vertrauen in die eigene Person, sondern zerstören ebenso das Vertrauen in Mitmenschen und Umwelt.

Soweit mein zweiter Impuls zum Thema Trauma. Auch jetzt ist wieder die Möglichkeit zu Rückfragen, und zum Gedankenaustausch. Ich möchte jedoch nicht dazu aufrufen, in diesem Rahmen persönliche Trauma-Erfahrungen zu teilen. Das könnte andere triggern und für einen selbst auch eine Überforderung darstellen.

Wir steigen nun wieder ein mit der Frage, was Menschen hilft, die davon – wie beschrieben – betroffen sind, die immer wieder in die „Seelenquetsche“ der „Traumatischen Zange“ geraten.

Die gute Nachricht auch angesichts dieses schweren und notvollen Themas lautet: Es gibt professionelle Ansätze für Menschen mit einer chronischen Traumatisierung: Traumatherapie und Traumapädagogik.

Heute will ich die Traumapädagogik ansprechen, die neben der Traumatherapie als weitere Disziplin entwickelt wurde, um Menschen, die traumatisiert sind, auch ohne eigens dafür ausgebildete Traumatherapeuten helfen zu können.

Als wesentliches Kennzeichen einer Traumatisierung wird die Destruktion des funktionalen Dialogs mit

  • sich selbst
  • der Umwelt und
  • dem Leben an sich benannt.

Gleiches könnte man übrigens auch zu Süchten bzw. Abhängigkeitserkrankungen formulieren!

Wenn der Kern des Problems die Destruktion dieses Dialogs mit sich selbst, der Umwelt und des Lebens an sich ist, besteht der Kern der Traumabehandlung und Traumapädagogik folgerichtig in der Wiederherstellung des „zerstörten Dialogs“ von Betroffenen mit

  • sich selbst
  • ihrer Umwelt und
  • dem Leben an sich.

Dies soll in der Traumapädagogik durch „korrigierende Beziehungserfahrungen“ möglich werden. Traumapädagogik ist keine Therapie und Trauma-Exposition im klassischen therapeutischen Sinn. Sie wurde entwickelt als Unterstützung traumatisierter Menschen im pädagogischen Alltag. Die Basisstrategie dafür ist es, einen Lebensraum mit einer Atmosphäre zu schaffen, die den größtmöglichen Kontrast zu traumatischen Situationen herstellt!

Die neurobiologische Erkenntnis dahinter lautet: Trauma-Muster können durch konstante und umfassende „Gegenerfahrungen“ – und nicht nur durch eine explizite therapeutische Aufarbeitungs-und Integrationsarbeit überschrieben werden. Diese Möglichkeit, Traumamuster hinter sich lassen bzw. überwinden zu können, wirkt jedoch nur, wenn sie konstant und auf längere Sicht hin, erfolgt: Die Möglichkeit, an einem sicheren Ort „Gegenerfahrungen“ zu machen! Ohne äußere Stabilisierung ist eine innere Stabilisierung und darauf aufbauend eine Trauma-Aufarbeitung nicht möglich oder zumindest nicht seriös, denn das Thematisieren eines Traumas kann – wie schon erwähnt – nach hinten losgehen.
_
Damit sind wir beim dritten und letzten Impuls für heute angekommen:

3. Kulturtherapeutisches Dorf Melchiorsgrund

Melchiorsgrund als Ort, Gegenerfahrungen zum Trauma und zu den jeweiligen Suchterlebnissen zu machen – Fragezeichen? – Ausrufenzeichen!

Traumapädagogik wird auch die Pädagogik des „safe place“ genannt. Hauptaufgabe im (päd-)agogischen Bereich ist es, einen sicheren Ort zu schaffen. Bezogen auf die Suchtthematik heißt das zunächst, ein „suchtmittelfreier“ Ort, ein Dorf, in dem ich vor der Verfügbarkeit von Suchtmitteln – hier am Platz – sicher bin.

Bezogen auf die Traumata, die hinter dem Suchtverhalten standen, ist ein Ort gemeint, an dem man vor Retraumatisierungen, also vor Erfahrungen, die das alte Trauma reaktivieren, so gut wie möglich geschützt ist und an dem konstante Gegenerfahrungen zum Trauma gemacht werden können.
*
Was ist mit Gegenerfahrungen gemeint?
*
Lassen Sie uns zunächst psychisch relevante Merkmale von Traumata betrachten und nach dem suchen, was Gegenerfahrungen dazu sein könnten:

Kern eines Traumas ist – wie ich bereits erwähnt habe – existentielle Angst, das Gefühl des Ausgeliefert-Seins. Die Gegenerfahrungen wären Sicherheit, Geborgenheit, Vertrauen.

  • Wie können diese Erfahrungen möglich werden?
  • Was heißt das konkret?

Ich werde zunächst einige allgemeine Gedanken dazu liefern, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, was gemeint ist. Danach können wir uns darüber näher austauschen und konkretere Aspekte finden, die den Melchiorsgrund als „safe place“ als Traumapädagogischen Ort auszeichnen.

Ich habe für hier und heute zunächst mal nur acht Punkte herausgegriffen …

1. Ein Trauma erfolgte meist unvorhersehbar, die Betroffenen waren nicht darauf eingestellt. Die Gegenerfahrungen dazu wären Vorhersehbarkeit, Transparenz, Information. Das heißt hier im Melchiorsgrund sollten die Leute bzgl. all der Dinge, die sie betreffen ausreichend informiert werden. Eine hohe Transparenz bzgl. Abläufen, Strukturen, Personen, Aktivitäten, Regeln, Erwartungen etc., ist nötig, denn all das schafft Vorhersehbarkeit, zum Beispiel in Bezug auf den eigenen Tagesablauf, Arbeits-und Beschäftigungsmöglichkeiten, Beziehungsangebote bzw. Bezugspersonen etc.

2. Ein Trauma bedeutet die Erfahrung von Kontrollverlust, Ohnmacht und Selbstunwirksamkeit. Dasselbe gilt auch für Süchte: Sucht und Trauma weisen als gemeinsames Merkmal den Verlust von Kontrolle und Selbstwirksamkeitserleben auf. Daher besteht oft auch gar keine Selbstwirksamkeitserwartung mehr. Gegenerfahrungen dazu wären: Das Erleben, etwas bewirken und einen Unterschied machen zu können! Die Möglichkeit, sich sinnvoll einzubringen, zum Beispiel in der Versorgung von Tieren, der landwirtschaftlichen Produktion von Lebensmitteln oder der Arbeit mit Holz in der Schreinerei oder künstlerisch in einem der regelmäßig stattfindenden Bildhauerworkshops. Die Möglichkeit „Erfolg“ zu haben. Man kann – mit den Worten der mit dem Melchiorsgrund ja kooperierenden Gemeinschaft Altenschlirf formulieren, dass es hier nicht um Teilhabe-, sondern ebenso um „Teilgabe-Möglichkeiten“ geht! Kein Mensch will sich lediglich als Bedürftiger, als Hilfeempfänger wahrnehmen bzw. wahrgenommen werden! Jeder will und kann (!) -auch in und mit all seiner Not – jemand sein dürfen, der etwas beizutragen, etwas zu geben hat -eine Bereicherung, statt eine Last!

3. Im Trauma hatte man keine Wahlmöglichkeiten, daher ist es wichtig, dass es am Ort Melchiorsgrund Wahlmöglichkeiten gibt. Hier werden Angebote gemacht, die eben nicht „alternativlos“ sind, sondern sich durch Vielfalt auszeichnen, ohne dass es unübersichtlich und beliebig wird.

4. Ein Trauma widerfährt einem ungewollt, unfreiwillig, daher ist Freiwilligkeit eine wichtige Gegenerfahrung. Hier im Melchiorsgrund ist meiner Wahrnehmung nach vieles freiwillig, und das ist gut so! Es geht beim Thema Freiwilligkeit ebenso darum, „Nein-Sagen“, das heißt Angebote – auch Gesprächsangebote NICHT annehmen, sie ablehnen zu können. Auch wenn das wie ein Vermeiden oder Verweigern wirken mag. Traumapsychologisch ist Flucht immer noch besser als „Freeze“. Es braucht daher auch Rückzugsnischen und hohen Respekt vor einem „Nein“ und damit den Grenzen der hier lebenden Leute.

5. Vor allem bei „man-made-Disasters“, also bei Traumata, die einem durch Menschen zugefügt wurden, wurden die eigenen Grenzen und damit man selbst übergangen. Gegenerfahrungen dazu wären: Man wird nicht nur informiert, sondern einbezogen (in der Fachsprache nennt man das „Partizipation“). Man wird gefragt, statt übergangen. Es gibt selbstorganisierte Aktivitäten auf Initiative von Bewohnerinnen und Bewohnern. Auch der Bewohnerrat hat hier eine wichtige Funktion!

6. Trauma macht einsam, man fühlt sich aus der Menschheit herausgefallen, unzugehörig, alleingelassen. Der Melchiorsgrund versteht sich als eine Gemeinschaft, hier ist soziales Leben! Man trifft sich und bespricht seine Fragen und Themen. Es gibt Wohngemeinschaften mit entsprechenden Gruppentreffen. Es gibt regelmäßige Gesprächstermine mit Bezugspersonen. Immer ist jemand vom Personal erreichbar, weil es eine durchgängige Rufbereitschaft gibt. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen …“ – Vielleicht braucht es auch ein Dorf, um eine Sucht und die dahinterliegenden Traumata überwinden zu können?!

7. Ein Trauma ist heftig, zerstörerisch. Hier im Melchiorsgrund wird sehr auf einen wertschätzenden, „milden“ und konstruktiven Umgang miteinander geachtet. Auch die Umgebung ist – wie wir alle sehen -nicht destruktiv, sondern schön und bewusst gestaltet. Statt Chaos und Durcheinander wie beim Trauma finden wir hier – nicht nur wenn ein Jubiläumsfest ansteht – ein gepflegtes, schönes Umfeld vor… (Auch deshalb bin ich immer wieder so gerne hier!)

8. Ein Trauma führt zur Erstarrung, zur Unbeweglichkeit, zum Eingefroren-Sein. Gegenerfahrungen können durch Bewegungsangebote ermöglicht werden. Bewegungsangebote können wichtige Hilfe bei Hyperaktivität und Verspannungen sein. Gerade sportliche Aktivitäten können effektive Maßnahmen gegen das übermächtige Gefühl des Kontrollverlustes sein. Bewegung kann innere Prozesse ausdrücken und diese fördern, zum Beispiel Spaziergänge in der Natur, Gartenarbeit, Tanzen, Eurythmie …
Durch Bewegungsaktivitäten können sich innere Blockaden lösen, Körperwahrnehmung und Sozialkompetenz gefördert werden. Ein Hauptmerkmal von akuten Belastungsreaktionen und Posttraumatischen Belastungsstörungen ist eine physiologische bzw. neurobiologische Übererregtheit, zum Beispiel in ständiger innerer Anspannung und einer angstvollen „Hab-Acht-Stellung“. Neben dem Effekt der Selbstwirksamkeitsstärkung bietet körperliche Aktivität die Möglichkeit zur Beruhigung. So kann ein Zustand hergestellt werden, der zum Beispiel Gespräche und neue Erfahrungen erst wieder möglich macht.

Die Kernstücke der Traumapädagogik sind:

1. der „Sichere Ort“, das heißt der transparente Ort, an dem in Bezug auf mich nichts geschieht, was ich nicht will und von dem ich nichts weiß.

Es werden transparente und kontinuierliche Abläufe angeboten. Das heißt sie werden weder übergestülpt oder auf-oktroyiert, noch sind sie beliebig, durcheinander und unvorhersehbar.

Traumatisierte Menschen haben ihre Handlungsfähigkeit und das Vertrauen in sich selbst verloren. Damit sich das ändern kann, braucht es innere und äußere Sicherheit für die Bewohner und auch für die Mitarbeitenden.

Ziel der Traumapädagogik ist es, dass Betroffene sich als fähig erleben, auf äußere Umstände und ihr inneres Erleben Einfluss nehmen zu können. Selbstregulative Funktionen werden aktiviert, Selbstfürsorge und der Gegenwartsbezug gefördert, Vermeidungsverhalten abgebaut, um neue, positive Erlebnisse und Bewältigungserfahrungen zu ermöglichen.

2. gute Bindungen zu Fachkräften, die mich in diesem Prozess der Selbstbemächtigung, das heißt allmählich wieder das Gefühl von Selbststeuerung zu erlangen, unterstützen und relevante „Gegenerfahrungen“ zu machen.

Diese Fachkräfte können dazu beitragen, einen stabilen Bezugsrahmen zu schaffen, indem sie als verlässliche Bezugspersonen auftreten, die nicht ständig wechseln und damit erneut Bezíehungsabbrüche erlebt werden, weil man anderen zu anstrengend, zu krank, zu nervig geworden ist …

Luise Reddemann schrieb 2011 in ihrem Manual zur Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie PITT dazu: „Was wir anstreben können ist, dass wir eine sichere Beziehungserfahrung ermöglichen, sodass auf Grund der gemeinsamen Arbeit traumatische Erfahrungen nicht mehr so quälen und ein Leben damit möglich erscheint; dass die traumatischen Erfahrungen mit Emotionen erinnert werden können, ohne dass man sich davon überwältigt fühlt und dass sich dadurch der traumatische Stress zurückbilden kann.“
(Reddemann: Stuttgart: Klett-Cotta, 2011, S. 37).

Verlässliche Bezugspersonen bzw. deren respektvolle, empathische und wertschätzend-akzeptierende und ehrliche Beziehungsgestaltung können zu sicheren Orten werden, weil sicher-stabile Bindungserfahrungen möglich werden …

Solche Bezugspersonen sind mehr als „Betreuer“ oder „Pädagogen“: sie wirken therapeutisch, das heißt heilend, weil die Ur-Erfahrung psychischen Heilwerdens ermöglicht wird: Angenommen sein, so wie man ist!

3. Die oberste Devise bzw. Leitlinie in der Traumapädagogik ist Verlässlichkeit! Dies ist keine Technik oder „Methode“, sondern eine Haltung! Dazu gehört auch Kontiuität, ohne die Erfahrungen von Halt und Sicherheit nicht möglich werden. Die genannten Fachkräfte sollten daher sicherstellen, dass die Betroffenen über einen längeren Zeitraum bleiben können. Eine Bleibeperspektive ist daher ganz wichtig. Rückfälle dürfen daher kein „K.O.-Kriterium“ darstellen!

Fazit: Letztlich geht es um die Begleitung auf dem Weg eine psychische Widerstandsfähigkeit
gegen die Schrecken der Vergangenheit zu gewinnen. Man nennt das heute „Resilienzförderung“. In diesem Zusammenhang spricht man auch von „Salutogenese“, also der Frage, wie Menschen gesund (lat. „salus“) werden können. In meiner Wahrnehmung bietet der Ort und die Gemeinschaft Melchiorsgrund eine Vielzahl von Resilienzfaktoren an, die zur Gesundwerdung entscheidend beitragen können.

Bevor wir in den Austausch über die traumapädagogischen Aspekte des Melchiorsgrunds gehen, will ich den Vorhang an einer Stelle noch etwas weiter aufschieben, weil wir hier die besonderen Besonderheiten, quasi die Alleinstellungsmerkmale des Melchiorsgrund nochmal fokussieren können. Es geht zum Abschluss um das „Kulturtherapeutische, anthroposophische Dorf“.

Zu sicheren Orten können nicht nur äußere Orte mit ihren Räumlichkeiten, Strukturen, Tages-und Wochenabläufen, Rhythmen und Ritualen, Regeln und gesunden Grenzen werden.

Auch die Natur kann als sicherer Ort angesehen werden: Tiere, wie hier am Melchiorsgrund sind dabei explizit mitgemeint! Von der Natur geht keine Gefahr aus. Auch nicht die der Ablehnung und Verurteilung oder der Nichtbeachtung – wie bei Menschen.

Ebenso ist hier Spiritualität zu nennen, womit ich auf den Aspekt des „Anthroposophischen“ hinweisen möchte. – Glaube, bzw. spirituelle Elemente als Angebote im Tages-oder Wochenverlauf können ein wichtiger Resilienzfaktor sein und eine wichtige, zusätzliche Ebene für Gespräche eröffnen.

Und – last but not least –die „Kirsche“ auf der „Sahnetorte“ Melchiorsgrund: Kunst und Kultur!

Trauma macht taub, abgestumpft, Leute spüren sich nicht mehr, Trauma führt zu innerer Leere… Trauma ist grau oder schwarz. Gegenerfahrungen sollten daher bunt sein! Angebote wie Gesangsunterricht, der Schwimmteich, der Chor, die Schauspielerei, der Selbstausdruck mit künstlerischen Möglichkeiten … Es geht darum, auch „das Unaussprechliche ausdrücken zu können“, um Bewältigungsprozesse anzuregen.

Daher sind künstlerische Ausdrucks-und Selbsterfahrungsmöglichkeiten traumapädagogisch sehr zu empfehlen:

  • in Sprache, Schauspiel oder Zirkus.
  • in Malen und Zeichnen, sowie plastischem Gestalten von Ton, Holz etc.
  • in der Musik, zu der schon Yehudi Menuhin sagte: „Musik heilt, Musik tröstet, Musik bringt Freude“ (o. D.).
  • Das Singen, Musizieren, Gestalten, Schnitzen, Malen, Theaterspielen und vieles mehr hier am Melchiorsgrund, fördert die Selbstwahrnehmung, die Achtsamkeit, das „Sich-einstellen-auf andere“ und damit die Sozialkompetenz und erweitert die Handlungsmöglichkeiten! All dies sind traumapädagogisch gesehen hoch relevante und wirksame Angebote!

Das Motto dabei lautet „Handlungsfreiheit“, statt Abhängigkeit oder Zwang und Ausweglosigkeit.

Durch Bilder können bisher „unerhörte“ Geschichten erzählt werden. Unterschiedliche Materialien und Techniken erzielen hierbei unterschiedliche Wirkungen, um im Schaffensprozess zu wachsen und Krisen zu überwinden und – Erfolg zu haben! Sogar öffentlich in euren diversen Theaterstücken, musikalischen Darbietungen und mehr!

Es ist mir ganz wichtig euch, die Leute vom Melchiorsgrund heute ganz persönlich als Mit-Mensch und fachlich als Psychologe zu bestärken und zu ermutigen! Kunst und Kultur als Kennzeichen dieses Ortes, der ja „Kulturtherapeutisches Dorf Melchiorsgrund“ heißt, haben eine traumapädagogisch hohe Wirksamkeit! Das Attribut „therapeutisch“ taucht im Namen eures Dorfes also vollkommen zu Recht auf!

Kunst und Kultur sind hier nicht nur Vorhaben und Lippenbekenntnisse. Sie sind hier eben „Kultur“, das heißt längst etabliert im Miteinander des Dorfes Melchiorsgrund. Die Wirkungen gehen auch weit über die Grenzen hinaus, sind also nicht nur intern, sondern z.T. sogar international sichtbar geworden. Auch darum freue ich mich sehr, an diesem Ort weiter mitwirken und dieses Fest mitfeiern zu dürfen!

Jetzt aber Vorhang auf für Ihre Gedanken, Erfahrungen und Ergänzungen dazu – und ich hoffe, dass der Austausch auch außerhalb unseres Forums in all den Gesprächen und Begegnungen weitergeht!

Ergänzungen aus dem zweiten Zukunftsforum vom 30.06.2024:

Wir haben gestern über die Relevanz einer traumapädagogischen Haltung, gesprochen. Die zentralen Punkte waren:

  • Transparenz, Information
  • Wertschätzung
  • Partizipation, Mitbestimmung, Kontrollmöglichkeiten

Die Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemächtigung, den die Betroffenen in für sie bedeutsamen sozialen Bezügen vollziehen, die ihnen durch professionelle Begleiter angeboten werden. (vgl. dazu Kühn, 2011)

Traumapädagogik tut jedem gut, für Menschen mit Traumatisierung sind die gestern besprochenen Prinzipien, bzw. auf die Erfahrung von deren Umsetzung existentiell notwendig, um aus den traumatischen Mustern, aus dieser schlimmen inneren Not herauskommen zu können.

Die Voraussetzungen für einen solchen „safe place“ hier im Melchiorsgrund erscheinen mir quasi optimal. Hier könnte vieles möglich werden, weil gemeinschaftliches Handeln Überschüsse produziert. Eine Gemeinschaft als soziales Netz schafft immer einen Mehrwert, das heißt es entsteht mehr, als die Gruppe für sich selbst braucht. Dadurch entstehen Entlastungsmomente für jeden einzelnen.

Im Melchiorsgrund ist einer der „Überschüsse“ das soziale Netz und damit ein großer Halt, gerade auch für Leute, die zwischenzeitlich auch mal nicht viel aktiv zur Gemeinschaft beitragen können, weil sie mit ihren Erfahrungen und ihren seelischen Zuständen ringen. Es geht um das „Sein-Dürfen“, das Angenommen-Sein, so wie man ist, das jedem Menschen eine Basis, ein stabiles, haltgebendes Fundament verschafft.

Es geht um eine Umkehr der Logik unserer Leistungsgesellschaft: Nicht „wenn …, dann“, sondern „weil, darum …“.

NICHT „Wenn clean, dann zugehörig und akzeptabel“,

SONDERN:
„weil zugehörig zu der Gemeinschaft, darum, kann jemand clean werden“,
„weil die Gemeinschaft trägt und auch das innere Ringen erträgt, darum kann sich jemand stabilisieren und selbst neu finden“.

Mit der „Wenn…-dann…-Logik“ verweigern wir nicht nur jemandem die Hilfe, die sie oder er JETZT (!) benötigt, sondern riskieren eine Retraumatisierung – eine Aussortierung aufgrund von Mängeln oder Schwächen, die nicht selten als Ausstoßung erlebt wird.

Das gnadenlose Prinzip des Neokapitalismus lautet: „(nur) wenn du gesund, also leistungsfähig bist, dann bist du Teil der Gesellschaft“ – eben der Leistungsgesellschaft in der nur die als vollwertig angesehen werden, die ihren Anteil zum Bruttosozialprodukt beitragen.

Die therapeutische Logik ist umgekehrt:

„Weil Du Teil unserer therapeutischen Gemeinschaft bist, weil Du an diesem Ort lebst und damit zum Melchiorsgrund gehörst, darum wird es möglich, gesund zu werden …“

Diese Erfahrung sollte hier, an diesem besonderen Ort möglich und erlebbar werden:

Weil hier ein Mensch so sein darf, wie er ist, darum kann er gesund werden.

Weil wir als Gemeinschaft im Melchiorsgrund einen sozialen Mehrwert für jeden Einzelnen „produzieren“, darum darf es so sein wie es ist – auch wenn das – zum Beispiel im Falle von Impulsdurchbrüchen, Krisen und Rückfällen anstrengend und herausfordernd ist

– Fragezeichen? – Ausrufezeichen!

im Juni 2024
Joachim Kix, Dipl.Psych., Kassel

Anmerkung: Einige der Formulierungen aus dem ersten Teil (Sucht) wurden, weil sie mir besonders treffend erschienen, mehreren mündlichen Vorträgen von Dr. Michael Bohne, Begründer der “Prozess- und Embodimentfokussierten Psychologie (PEP)” entlehnt.

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